Veröffentlicht am März 15, 2024

Echte Erholung ist kein passiver Zustand, sondern eine aktive Fähigkeit zur Regulation Ihres Nervensystems.

  • Passive Ablenkung wie Scrollen oder Fernsehen hält Sie oft unbemerkt im Stressmodus (Sympathikus).
  • Gezielte Techniken wie bewusste Atmung, Naturkontakt oder manuelle Tätigkeiten aktivieren gezielt den „Ruhe-Nerv“ (Parasympathikus).

Empfehlung: Lernen Sie, bewusst zwischen diesen Zuständen zu wechseln, um Stress nachhaltig abzubauen und Ihre Resilienz zu stärken.

Sie kennen das Gefühl: Nach einem langen Arbeitstag fallen Sie auf die Couch, greifen zum Smartphone und scrollen endlos durch Feeds. Stunden später fühlen Sie sich aber nicht erholt, sondern seltsam leer, vielleicht sogar noch angespannter. Sie haben zwar „abgeschaltet“, aber Ihr inneres System läuft immer noch auf Hochtouren. Dieses Phänomen ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines fundamentalen Missverständnisses darüber, was Erholung wirklich bedeutet. Viele von uns verwechseln passive Ablenkung mit aktiver Regeneration, doch für unser Nervensystem sind das zwei völlig verschiedene Welten.

Die gängigen Ratschläge beschränken sich oft darauf, Stress zu „vermeiden“ – ein in der modernen Welt nahezu unmögliches Unterfangen. Die Wahrheit ist, dass wir nicht unbedingt weniger Stress brauchen, sondern bessere Werkzeuge, um mit ihm umzugehen. Der Schlüssel dazu liegt im Verständnis unseres autonomen Nervensystems, das mit seinen zwei Hauptakteuren – dem Sympathikus (unserem „Gaspedal“ für Kampf- und Fluchtreaktionen) und dem Parasympathikus (unserer „Bremse“ für Ruhe und Verdauung) – unsere gesamte körperliche und geistige Verfassung steuert. Chronischer Stress bedeutet, dass das Gaspedal permanent durchgedrückt ist.

Doch was wäre, wenn die Lösung nicht darin bestünde, passiv auf die Bremse zu hoffen, sondern zu lernen, sie aktiv und bewusst zu betätigen? Dieser Artikel bricht mit dem Mythos der passiven Berieselung. Er führt Sie in die Kunst der aktiven Erholung ein – eine erlernbare Fähigkeit, einen bewussten Dialog mit Ihrem Nervensystem zu führen. Statt nur abzuschalten, lernen Sie, den parasympathischen Schalter gezielt umzulegen, um echte, tiefgreifende Regeneration zu erfahren. Wir werden physiologische Zusammenhänge einfach erklären und Ihnen konkrete, alltagstaugliche Techniken an die Hand geben, die weit über oberflächliche Entspannungstipps hinausgehen.

Für ein tieferes wissenschaftliches Verständnis der neuronalen Grundlagen von Sicherheit und Verbindung bietet das folgende Video einen Einblick in die Polyvagal-Theorie, die auch die Basis für viele der hier vorgestellten Techniken bildet.

In diesem Leitfaden entdecken Sie, wie Sie Ihr Nervensystem nicht nur verstehen, sondern aktiv beeinflussen können. Wir werden verschiedene Methoden untersuchen, von körperlichen Übungen über Naturerlebnisse bis hin zu mentalen Ritualen, um Ihre persönliche „Stress-Apotheke“ zu füllen.

Ablenkung ist nicht Entspannung: Warum Sie sich nach dem Scrollen auf der Couch immer noch gestresst fühlen

Dass Sie sich nach stundenlangem Scrollen auf Social Media oder dem Binge-Watching einer Serie nicht erholt fühlen, hat einen tiefen physiologischen Grund. Diese Aktivitäten sind keine echte Entspannung, sondern lediglich eine Form der Ablenkung, die Ihr Nervensystem weiterhin in einem Zustand der subtilen Anspannung hält. Der ständige Strom neuer Informationen, die emotionalen Reize und das blaue Licht der Bildschirme signalisieren Ihrem Gehirn, wachsam zu bleiben. Ihr Sympathikus, der für „Kampf oder Flucht“ zuständig ist, bleibt aktiv. Er sorgt für eine erhöhte Herzfrequenz und schüttet Stresshormone wie Cortisol aus. Echte Erholung findet jedoch erst statt, wenn der Gegenspieler, der Parasympathikus, die Oberhand gewinnt.

Die von Stephen Porges entwickelte Polyvagal-Theorie bietet hier ein noch genaueres Bild. Sie beschreibt drei Zustände unseres Nervensystems: den ventralen Vagus-Zustand der Sicherheit und sozialen Verbundenheit (hier findet echte Erholung statt), den sympathischen Zustand der Mobilisierung (Kampf/Flucht) und den dorsalen Vagus-Zustand der Erstarrung oder des Kollapses (ein Überlebensmechanismus bei extremer Gefahr). Digitale Medien halten uns oft im sympathischen Zustand gefangen. Wir sind zwar nicht in Lebensgefahr, aber unser System ist „an“ und wartet auf den nächsten Reiz. Studien zeigen, dass dauerhafte sympathische Aktivierung zu erhöhtem Blutdruck, Verdauungsproblemen und chronischer Erschöpfung führen kann. Passive Ablenkung ist also wie ein Motor, der im Leerlauf auf hoher Drehzahl läuft – es verbraucht Energie, ohne uns voranzubringen.

Der erste Schritt zur wahren Erholung ist daher die bewusste Entscheidung, Aktivitäten zu wählen, die nicht nur ablenken, sondern den parasympathischen Schalter aktiv umlegen.

Die Natur als Medizin: Wie ein 20-minütiger Spaziergang im Wald Ihr Stresslevel messbar senkt

Eine der wirksamsten und zugänglichsten Methoden, um den Parasympathikus zu aktivieren, ist der Aufenthalt in der Natur. Das japanische Konzept des „Shinrin-yoku“ oder „Waldbadens“ hat wissenschaftlich fundierte Effekte auf unser Wohlbefinden. Schon ein kurzer Spaziergang von 20 Minuten in einer grünen Umgebung kann den Cortisolspiegel senken, den Blutdruck regulieren und die Herzfrequenzvariabilität (ein Indikator für ein entspanntes Nervensystem) verbessern. Doch warum ist das so?

Die Natur wirkt auf mehreren Ebenen beruhigend auf unser System. Visuell werden unsere Augen von sanften, organischen Formen und Mustern, sogenannten Fraktalen, angesprochen, die in Blättern, Baumkronen oder Schneckenhäusern zu finden sind. Diese Muster sind für unser Gehirn leicht zu verarbeiten und wirken im Gegensatz zur kantigen, reizüberfluteten städtischen Umgebung entspannend. Akustisch filtert die Natur laute, abrupte Geräusche und ersetzt sie durch das beruhigende Rauschen von Blättern oder Vogelgesang. Diese sanften Reize signalisieren unserem Gehirn: Hier bist du sicher.

Person beim achtsamen Waldspaziergang mit Fokus auf die natürliche Umgebung und entspannte Körperhaltung

Wie Sie auf dem Bild sehen, geht es nicht um sportliche Leistung, sondern um achtsames Eintauchen. Der Schlüssel ist, die digitalen Geräte wegzulegen und die Sinne zu öffnen. Spüren Sie den Boden unter den Füßen, atmen Sie den Duft von Moos und Erde ein, lauschen Sie den Geräuschen des Waldes. Dieser bewusste Kontakt mit der Natur ist ein kraftvoller körperlicher Anker, der Sie aus dem Gedankenkarussell herausholt und Ihr Nervensystem sanft in den Erholungsmodus versetzt.

Integrieren Sie diesen kurzen Natur-Reset in Ihren Alltag – sei es im Park in der Mittagspause oder im Wald am Wochenende. Es ist eine einfache, aber hochwirksame Medizin gegen die Überreizung des modernen Lebens.

Anspannen, loslassen, entspannen: Die Progressive Muskelentspannung als körperlicher Knopf zum Abschalten

Manchmal ist der Kopf so voll, dass man den Zugang zur Entspannung nicht findet. Hier kommt eine Technik ins Spiel, die direkt am Körper ansetzt: die Progressive Muskelentspannung (PME) nach Edmund Jacobson. Das Prinzip ist genial einfach: Ein Muskel kann nicht gleichzeitig angespannt und entspannt sein. Indem Sie verschiedene Muskelgruppen bewusst für einige Sekunden stark anspannen und dann abrupt loslassen, zwingen Sie Ihren Körper quasi in die Entspannung. Der darauffolgende Zustand der Lockerheit ist viel tiefer und bewusster wahrnehmbar als eine passive Entspannung.

Diese Methode ist ein direkter Dialog mit Ihrem Nervensystem. Die Anspannung aktiviert kurz den Sympathikus, doch das anschließende Loslassen führt zu einem starken „Rebound-Effekt“, der den Parasympathikus aktiviert. Sie spüren, wie Wärme und Schwere in die Muskeln strömen – ein klares Zeichen für Entspannung. Die Wirksamkeit ist gut belegt; eine Metastudie aus 1994 mit 3.000 Patienten belegt, dass bei rund 75 % der Teilnehmenden deutliche Symptomverbesserungen bei Stress, Angstzuständen und Schlafstörungen auftraten. Die PME ist somit ein verlässlicher „körperlicher Knopf“ zum Abschalten.

Sie können eine kurze Routine direkt im Bett vor dem Einschlafen durchführen, um den Körper auf Ruhe vorzubereiten:

  • Kiefer & Gesicht: Pressen Sie die Zähne zusammen und runzeln Sie die Stirn (5-7 Sekunden). Lassen Sie los und spüren Sie, wie die Anspannung aus dem Gesicht weicht (30 Sekunden nachspüren).
  • Nacken & Schultern: Ziehen Sie die Schultern fest in Richtung Ohren (5-7 Sekunden). Lassen Sie sie abrupt fallen und nehmen Sie die Schwere wahr (30 Sekunden).
  • Arme & Hände: Ballen Sie beide Hände zu Fäusten und spannen Sie die Arme an (5-7 Sekunden). Öffnen Sie die Hände und lassen Sie die Arme schlaff werden, beobachten Sie das pulsierende Gefühl (30 Sekunden).
  • Bauch & Rücken: Spannen Sie die Bauchmuskulatur an, als würden Sie einen Schlag erwarten (5-7 Sekunden). Lassen Sie los und atmen Sie tief in den entspannten Bauch (30 Sekunden).

Durch die Konzentration auf die körperlichen Empfindungen wird der Geist auf einen greifbaren Ankerpunkt gelenkt, was das Gedankenkarussell effektiv unterbricht.

Der Flow der Hände: Warum repetitive Tätigkeiten wie Stricken oder Gärtnern eine hochwirksame Form der Meditation sind

Nicht jede Form der Entspannung muss in Stille stattfinden. Aktivitäten, die unsere Hände auf eine rhythmische und repetitive Weise beschäftigen, sind eine unglaublich wirksame Methode, um in einen meditativen Zustand zu gelangen, der als „Flow“ bekannt ist. Tätigkeiten wie Stricken, Häkeln, Töpfern, das Sortieren von Steinen oder die Gartenarbeit haben eine tief beruhigende Wirkung auf unser Nervensystem.

Der Grund dafür liegt in der bilateralen, rhythmischen Bewegung. Wenn beide Hände koordiniert und wiederholt arbeiten, fördert dies die Kommunikation und Synchronisation zwischen den beiden Gehirnhälften. Dieser Prozess hat eine regulierende Wirkung und kann helfen, emotionale Übererregung abzubauen. Zudem wird durch die repetitive, sanfte Bewegung der Vagusnerv stimuliert, was, wie wir wissen, den Parasympathikus aktiviert. Das Gehirn schaltet von einem Zustand des Multitaskings und der Sorgenplanung in einen Modus der fokussierten Präsenz.

Nahaufnahme von Händen beim achtsamen Arbeiten mit natürlichem Material

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die haptische Erfahrung – das Spüren des Materials. Die Textur von Wolle, die Kühle von Ton, die Feuchtigkeit von Erde oder die glatte Oberfläche von Holz dient als starker Achtsamkeitsanker. Die gesamte Aufmerksamkeit wird auf das Hier und Jetzt, auf die Interaktion zwischen Händen und Material, gelenkt. Gedanken an die Vergangenheit oder Zukunft treten in den Hintergrund. Es ist eine Meditation in Bewegung, die ohne den Druck auskommt, „an nichts denken“ zu müssen. Das Ergebnis ist oft ein Gefühl tiefer Zufriedenheit und Ruhe, weil man etwas Greifbares geschaffen hat, während der Geist zur Ruhe kam.

Finden Sie eine manuelle Tätigkeit, die Ihnen Freude bereitet. Es geht nicht um das perfekte Ergebnis, sondern um den Prozess und die beruhigende Wirkung der rhythmischen Bewegung Ihrer Hände.

Das Feierabend-Ritual: Der bewusste Übergang, der verhindert, dass Sie den Arbeitsstress mit nach Hause nehmen

Einer der häufigsten Gründe für ein chronisch überreiztes Nervensystem ist das Fehlen einer klaren Grenze zwischen Arbeit und Privatleben. Wir nehmen den Stress, die unerledigten Aufgaben und die mentalen To-do-Listen mit nach Hause, wo sie unsere Fähigkeit zur Erholung sabotieren. Ein bewusst gestaltetes Feierabend-Ritual wirkt wie eine Schleuse, die den Arbeitsmodus (Sympathikus) vom Erholungsmodus (Parasympathikus) trennt.

Ein solches Ritual muss nicht kompliziert sein, aber es sollte bewusst und konsequent durchgeführt werden. Es signalisiert Ihrem Gehirn und Körper unmissverständlich: „Der Arbeitstag ist jetzt vorbei. Nun beginnt die Zeit der Regeneration.“ Der folgende Vergleich zeigt deutlich, welche körperlichen Veränderungen Sie mit einem solchen Ritual anstoßen wollen.

Die nachfolgende Tabelle veranschaulicht die gegensätzlichen Zustände, zwischen denen ein Feierabend-Ritual den Übergang schafft, eine Unterscheidung, die auch eine detaillierte Analyse des Nervensystems bestätigt.

Sympathikus vs. Parasympathikus Aktivierung
Sympathikus (Arbeitsmodus) Parasympathikus (Erholungsmodus)
Erhöhte Herzfrequenz Verlangsamter Herzschlag
Flache Brustatmung Tiefe Bauchatmung
Muskelanspannung Muskelentspannung
Verdauung gehemmt Verdauung aktiviert
Pupillen erweitert Pupillen verengt

Um diesen Wechsel aktiv herbeizuführen, können Sie ein Ritual gestalten, das mehrere Sinne anspricht und so eine stärkere Wirkung entfaltet.

Ihr Aktionsplan: Das multisensorische Feierabend-Ritual

  1. Wechseln Sie Ihre Arbeitskleidung gegen bequeme Kleidung, um den Übergang auch haptisch zu spüren (Tastsinn).
  2. Vernebeln Sie ein beruhigendes ätherisches Öl wie Lavendel oder Bergamotte in einem Diffusor (Geruchssinn).
  3. Bereiten Sie sich bewusst einen warmen Kräutertee zu und genießen Sie den Geschmack und die Wärme (Geschmack, Wärme).
  4. Legen Sie ein bestimmtes Lied oder eine Playlist auf, die Sie ausschließlich mit Entspannung verbinden (Gehörsinn).
  5. Praktizieren Sie für fünf Minuten eine einfache Atemübung wie die 4-7-8-Atmung, um das Nervensystem direkt zu beruhigen.

Die Regelmäßigkeit ist dabei entscheidender als die Dauer. Schon 10 bis 15 Minuten bewusster Übergang können einen enormen Unterschied für die Qualität Ihrer Freizeit machen.

Ihre erste Meditation: Eine geführte 5-Minuten-Anleitung, die Sie nicht falsch machen können

Meditation ist eine der direktesten Methoden, um den „parasympathischen Schalter“ umzulegen. Doch viele Anfänger fühlen sich von dem Gedanken eingeschüchtert, „den Kopf leermachen“ zu müssen – ein weitverbreitetes Missverständnis. Das Ziel der Meditation ist nicht die Abwesenheit von Gedanken, sondern die Veränderung Ihrer Beziehung zu ihnen. Sie lernen, die Rolle eines neutralen Beobachters einzunehmen, anstatt sich von jeder Sorge mitreißen zu lassen. Die Atmung dient dabei als Ihr verlässlicher körperlicher Anker.

Sie können Meditation nicht „falsch“ machen. Jeder Moment, in dem Sie bemerken, dass Ihre Gedanken abgeschweift sind, und Sie Ihre Aufmerksamkeit sanft zur Atmung zurückbringen, ist ein erfolgreicher Moment des Trainings. Es ist wie das Trainieren eines Muskels. Diese einfache 5-Minuten-Anleitung ist ein perfekter Einstieg:

  1. Finden Sie eine bequeme Position: Setzen Sie sich aufrecht, aber entspannt auf einen Stuhl. Ihre Füße stehen fest auf dem Boden, Ihre Hände ruhen auf den Oberschenkeln. Schließen Sie sanft die Augen.
  2. Nehmen Sie drei tiefe Atemzüge: Atmen Sie tief durch die Nase ein und lang und hörbar durch den Mund aus. Stellen Sie sich vor, wie Sie mit jedem Ausatmen Anspannung loslassen.
  3. Fokussieren Sie sich auf die Atmung: Lassen Sie Ihren Atem nun natürlich fließen. Richten Sie Ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Empfindung des Atems, wie er in Ihre Nase ein- und ausströmt. Spüren Sie die kühle Luft beim Einatmen und die warme Luft beim Ausatmen.
  4. Beobachten Sie Ihre Gedanken: Es ist normal, dass Gedanken auftauchen. Wenn Sie bemerken, dass Sie einem Gedanken gefolgt sind, nehmen Sie das freundlich zur Kenntnis („Aha, ein Gedanke“) und lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit sanft wieder auf das Gefühl Ihrer Atmung.
  5. Beenden Sie die Übung sanft: Nach etwa fünf Minuten (stellen Sie sich bei Bedarf einen Wecker) nehmen Sie noch einmal einen tiefen Atemzug, spüren Sie Ihren Körper auf dem Stuhl und öffnen Sie langsam wieder die Augen.

Schon diese kurze Praxis, regelmäßig durchgeführt, trainiert Ihr Gehirn darin, sich schneller von Stress zu erholen und bewusster im gegenwärtigen Moment zu verweilen.

Beweglichkeit ist nicht Dehnen: Warum „Mobility“-Training der geheime Schlüssel zu mehr Kraft und weniger Schmerzen ist

Wenn wir an Entspannung für den Körper denken, kommt uns meist passives Dehnen in den Sinn. Doch es gibt eine aktivere und oft nachhaltigere Methode, um Verspannungen zu lösen und das Nervensystem zu beruhigen: Mobility-Training. Während Dehnen primär die Länge eines Muskels verändert, konzentriert sich Mobility auf die Verbesserung des aktiven Bewegungsumfangs eines Gelenks. Es geht darum, die Kontrolle und Kraft über den gesamten Bewegungsradius zu erlangen.

Warum ist das für die Entspannung so relevant? Ein Nervensystem, das sich unsicher über die Stabilität eines Gelenks ist, reagiert mit Schutzspannung. Die umliegenden Muskeln werden chronisch angespannt, um das Gelenk zu schützen. Dies führt zu einem Gefühl der Steifheit und sendet konstante „Gefahren“-Signale an das Gehirn, was den Sympathikus aktiv hält. Kontrollierte, langsame Gelenksrotationen (sogenannte Controlled Articular Rotations, CARs) signalisieren dem Nervensystem hingegen: „Ich habe hier die Kontrolle. Dieses Gelenk ist sicher und stark.“ Das Gehirn reduziert daraufhin die Schutzspannung, und die Muskeln können sich entspannen.

Diese Art der Bewegung ist eine Form der Meditation in Aktion. Sie erfordert volle Konzentration und Achtsamkeit, was den Geist beruhigt und im Moment verankert. Eine kurze Mobility-Routine kann Wunder wirken, besonders wenn Sie viel sitzen:

  • Handgelenks-CARs: Strecken Sie einen Arm aus und „malen“ Sie mit Ihrer Hand langsam den größtmöglichen Kreis, ohne den Unterarm zu bewegen. Machen Sie 10 langsame Kreise pro Richtung und Seite.
  • Brustwirbelsäule (Katze-Kuh im Sitzen): Sitzen Sie aufrecht. Beim Ausatmen runden Sie den Rücken und ziehen das Kinn zur Brust. Beim Einatmen öffnen Sie die Brust und schauen leicht nach oben. 8 langsame Wiederholungen.
  • Sitzende Hüftrotation: Heben Sie im Sitzen ein Knie an und führen Sie langsame, kontrollierte Kreise aus der Hüfte heraus durch. 5 Kreise pro Seite.

Diese bewussten Bewegungen sind ein direkter Weg, um Ihrem Nervensystem Sicherheit zu vermitteln und so die Grundlage für tiefere körperliche und geistige Entspannung zu schaffen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Wahre Erholung ist eine aktive Fähigkeit, den „Ruhe-Nerv“ (Parasympathikus) zu stimulieren, kein passiver Zustand der Ablenkung.
  • Der Schlüssel liegt darin, körperliche Anker wie Atmung, Bewegung oder Sinneswahrnehmungen zu nutzen, um den Wechsel vom Stress- in den Erholungsmodus bewusst einzuleiten.
  • Kleine, regelmäßige Rituale (wie ein Feierabend-Ritual oder eine 5-Minuten-Meditation) sind wirksamer für die langfristige Resilienz als seltene, große Anstrengungen.

Ihre persönliche Stress-Apotheke: Ein Handbuch mit bewährten Techniken für akute Notfälle und langfristige Resilienz

Nachdem wir die Mechanismen und verschiedene Techniken kennengelernt haben, ist es an der Zeit, Ihre ganz persönliche „Stress-Apotheke“ zusammenzustellen. Das Ziel ist es, ein Repertoire an Werkzeugen zu haben, auf das Sie je nach Situation und Zustand Ihres Nervensystems zugreifen können. Nicht jede Technik ist für jeden Moment geeignet. Es ist entscheidend zu erkennen, ob Sie sich in einem Zustand der Übererregung (Herzrasen, Panik) oder der Erstarrung (Taubheit, Antriebslosigkeit) befinden.

Die Polyvagal-Theorie hilft uns dabei, die richtige „Medizin“ für den jeweiligen Zustand zu wählen. Die folgende Übersicht, basierend auf aktuellen Erkenntnissen der Psychologie, bietet eine klare Orientierung:

Nervensystem-Techniken nach Zustand
Zustand Symptome Techniken
Übererregung (Sympathikus) Herzrasen, Panik, Unruhe Langer Ausatem (4-7-8), Kältereiz, Vagusnerv-Massage
Erstarrung (Dorsal-Vagal) Taubheit, Dissoziation, Kollaps Rhythmische Bewegung, laute Musik, sanfte Aktivierung
Sicherheit (Ventral-Vagal) Ruhe, Verbundenheit, Präsenz Selbstumarmung, soziale Verbindung, Ko-Regulation

Ein besonders schneller und wirksamer Eingriff bei akuter Übererregung ist ein Kältereiz. Das Gesicht oder die Hände in kaltes Wasser zu tauchen oder eine kurze kalte Dusche aktiviert den sogenannten Tauchreflex, der den Vagusnerv sofort stimuliert und die Herzfrequenz senkt. Forschungen zeigen, dass regelmäßige Kälteexposition das parasympathische Nervensystem langfristig stärken kann. Schon 30 Sekunden am Ende Ihrer normalen Dusche können ausreichen.

Beginnen Sie noch heute damit, eine dieser Techniken in Ihren Alltag zu integrieren. Experimentieren Sie, beobachten Sie, wie sich Ihr Körpergefühl verändert, und bauen Sie schrittweise Ihre persönliche Routine für nachhaltige Resilienz und wahre Erholung auf.

Häufige Fragen zur aktiven Entspannung des Nervensystems

Muss ich beim Meditieren an nichts denken?

Nein, das Ziel ist nicht ein ‚leerer Geist‘, sondern die Rolle eines neutralen Beobachters der eigenen Gedanken einzunehmen, ohne sich in sie zu verstricken.

Wie wirkt die Atmung auf das Nervensystem?

Langsame, tiefe Atmung signalisiert dem Gehirn physisch ‚Sicherheit‘ und aktiviert den Vagusnerv, was zur Beruhigung des gesamten Systems führt.

Was ist der Body Scan?

Eine Alternative zur reinen Atem-Meditation, bei der die Aufmerksamkeit systematisch durch verschiedene Körperregionen wandert – oft greifbarer für Anfänger.

Geschrieben von Dr. Markus Neumann, Dr. Markus Neumann ist ein promovierter Sportwissenschaftler und Gesundheits-Coach mit 15 Jahren Erfahrung in der Entwicklung ganzheitlicher Strategien für körperliches und mentales Wohlbefinden.